Liebe in der Windel-Zeit

Der Familienberater Josef Zimmermann im Interview über die Schwierigkeiten von Eltern mit der Sexualität – als Paar und im Umgang mit ihren Kindern.

Verändert sich die Bedeutung von Sexualität im Laufe einer Partnerschaft?

Ihr erstes Kennen- und Liebenlernen beschreiben nahezu alle Paare mit mehr oder weniger romantischen Bildern und Formulierungen: Es traf sie wie ein Pfeil, sie spürten Schmetterlinge im Bauch und glühende Sehnsucht, schon wenn sie sich für kurze Zeit nicht se­hen konnten … Doch beim längeren Zusammenleben nehmen zwangsläufig die Zeiten des alltagspragmati­schen Funktionierens immer mehr zu: Auch Verliebte müssen mitunter unsinnliche Orte aufsuchen, um dort zu arbeiten und einzukaufen, müssen die Wohnung sauber halten und den Müll runter bringen. Darüber verwandelt sich bei allen Paaren, ob sie nun Eltern sind oder nicht, die sich selbst genügende und aufregende Liebe in eine weniger aufregende, aber nicht minder zu schätzende Gefährtenliebe. Dabei wünschen sich wohl alle, dass ihnen Teile der romantischen Liebe erhalten bleiben, auch in Form einer erregenden Sexualität. Das ist ein sehr hoher und historisch junger Anspruch; dazu kommt noch der mediale Jugend- und Prickelsexwahn, der die Partner je nachdem zusätzlich unter Druck setzt oder verwirrt oder komplett abschreckt.

Wie können Paare mit diesem Druck und den Einflüssen der Medien umgehen?

Zunächst einmal: Bilder und Ideale, ob gemalt oder vorgestellt, die Einfluss auf das Selbstbild und die Lei­denschaft der Menschen ausübten, gab es schon immer. Nur begegnen sie einem heute fast flächendeckend. Die Herausforderung besteht darin, damit umzugehen – ob ich mich diesen Einflüssen verschließe oder sie mit dem Partner thematisiere und ins Gespräch bringe. Wenn ich es lerne, mir einerseits einzugestehen, dass ich ewig begehrenswert sein und eine Super-Figur oder einen Waschbrettbauch haben möchte, und es andererseits an­nehme und aushalte, dass ich fehlerhaft und unvollkom­men bin – wenn ich das schaffe, birgt dieser Umgang mit Ambivalenzen ein großes produktives Potenzial. Ich kann mit meinem Partner Wünsche und Sehnsüchte an­sprechen, muss sie nicht verstecken und komme vielen darüber vielleicht sogar erst auf die Spur. Und Kinder lernen von meiner Art, mit Ambivalenzen und auch mit Unvollkommenheiten umzugehen, gewissermaßen am Modell, wie sie selbst Druck und Anforderungen aushal­ten können. 

Bevor wir zu den Kindern kommen: Wie lassen sich Liebe und körperliche Zuneigung in einer langjährigen Paar­beziehung lebendig halten? Geraten Paare da mit ihren Wünschen nicht oft in ein unausweichliches Dilemma?

„Dilemma“ ist vielleicht zu hart, weil es nach einem tragischen Ausgang klingt. Es geht darum, sich gemein­sam in dem Spannungsfeld von Gefährtenliebe und romantischer Liebe zu bewegen und zu entwickeln. Viel­leicht gelingt es Paaren mit Kindern ja, den zunehmen­den Abhängigkeiten und Absprache-Notwendigkeiten freundliche Seiten abzugewinnen, sich zum Beispiel, wenn sie abends totmüde ins Bett fallen, gegenseitig zu bestätigen, dass sie diesen schwierigen Tag eigentlich doch gut ’rumgekriegt haben. Zugleich gilt es natürlich, sich lebbare Nischen und Lichtungen zu schaffen und zu erhalten, in denen jenseits von Arbeit und Kindern die Freude der beiden als Paar aneinander, Romantik und lustvolle Sexualität wieder aufschimmern und gelebt werden können.

Viele Paare mit kleinen Kindern werden sagen: Schön und gut, aber dazu fehlt uns einfach die Kraft.

Es stimmt, solche Räume sind bei kleinen Kindern durch einen zeitlich und nervlich fordernden Pflege- und Betreuungsaufwand und die damit verbundene Dauer­müdigkeit und Gereiztheit massiv verengt. Daher ist es umso wichtiger, von Anfang an dagegenzuhalten und für kinderfreie Zeiten zu sorgen: das Kind oder die Kinder für einen Tag, eine Nacht, ein Wochenende zu den Großeltern, Verwandten, Freunden zu geben, das Alleinsein zu Hause zu genießen oder zusammen für einen Tag oder ein Wochenende wegzufahren. Denn daraus können Eltern für sich als Paar selbst wieder Kraft schöpfen.

Das gilt ähnlich für die Sorge um die eigene körperliche Attraktivität. Viele Frauen und Männern stumpfen in diesem Punkt nach einigen Jahren und besonders nach der Geburt von Kindern fast unmerklich ab. Sie halten sich vielleicht selber nicht mehr für so attraktiv oder glauben, dass es darauf nach einigen Jahren Zusammen­leben nicht so ankommt. Fürs Büro ziehen sie sich noch gut und attraktiv an, zu Hause dagegen laufen sie nur noch in Jogging-Anzügen herum. Und die Wohnung, bei Paaren ohne Kinder noch das Refugium für die ro­mantische Liebe, bietet statt eines sinnlich-anregenden Kerzenschimmer-Looks nur noch Windeln, trocknende Babywäsche und Unordnung. Sich daheim zu geben, wie man ist, ist schön, sich einfach gehen zu lassen, kann jedoch verhängnisvoll sein. Darunter leidet auf die Dauer auch das Selbstwertgefühl.

Dürfen Eltern auch vor den eigenen Kindern zärtlich sein?

Natürlich. Wenn sie sich berühren, streicheln, küs­sen, scherzen und juxen, in ihren Blicken und Gesten darf auch etwas lustvoll Begehrliches aufschimmern. Eine Grenze findet das aber in den eigenen Schamgrenzen, die immer zu achten und nicht einer falsch verstandenen Liberalität zu opfern sind, und später auch im Schamge­fühl von Jugendlichen, die sich andernfalls in der eigenen Pickeligkeit und Scham „vorgeführt“ fühlen könnten.

An dem Umgang der Eltern miteinander, an ihrer liebe- und würdevollen Zärtlichkeit erkennen Kinder auch, welchen Wert es hat, ein Mädchen oder ein Junge zu sein, Frau und Mann zu werden, wie Frau und Mann miteinander umgehen, sich wertschätzen, würdigen und lieben.

Wie sonst noch können Eltern ihren Kindern und Jugendlichen den Wert einer glücklich gelebten Sexualität vermitteln? Ab wann und wie kommen sie mit ihnen über Sexualität ins Gespräch? Gibt es typische Anlässe dafür?

Von Anfang an. Das Kind ist von Geburt an in seiner Sexualität oder besser: Leiblichkeit auf der Welt. Die ersten „Gespräche“ darüber laufen nonverbal – über das Erfahren von Sinnlichkeit, beim Schmusen, Streicheln und Küssen, beim Wickeln, Baden, Wonnegrausen, beim festen Drücken … Sexualität entwickelt sich aus einem Sich-Öffnen der Sinne für die Welt und über die Sensibilität für die leiblichen Bedürfnisse. Wenn das von Kindesbeinen eingeübt wird, fallen Eltern und Kindern die Gespächsanlässe in der Folge wie von al­leine zu: Körpererkundungsspiele im Kindergarten, die Frage der Kinder, wo sie hergekommen sind, wie Mama und Papa sich lieb gehabt haben … Bei älteren Kindern und Jugendlichen sind es gemeinsam gesehene Filme, Zeitungsschlagzeilen, Fragen aus dem Schulunterricht. Und natürlich bieten die erste Freundin oder der erste Freund einen eindeutigen Anlass, über die Freuden und Ängste, Gefahren und Verantwortungen der Liebe und der Sexualität zu sprechen. Eine „Aufklärung“ darüber nehmen Kinder umso eher an, wenn ihre Eltern über die Irrungen und Wirrungen des eigenen Erwachsen-Werdens erzählen können, möglichst mit Humor.

Worüber sich alle Mütter und Väter jedoch klar sein sollten: Die wichtigsten und prägendsten Informationen über Liebe und Sexualität beziehen Kinder und Jugend­liche aus der Beziehung zwischen ihren Eltern, daraus, wie liebe- und lustvoll sie als Frau und Mann mitein­ander umgehen. Und: Bei aller Offenheit und allem elterlichen Engagement ist es aber auch eine Entwick­lungsaufgabe von Jugendlichen, sich abzugrenzen und eigene Wege zu gehen, Liebesfreud und -leid gelegentlich auch alleine zu verarbeiten, ohne die Eltern anzuspre­chen. Eltern müssen es aushalten, wenn ihre Kinder ihren guten Rat, das angebotene Gespräch, das Kummer vielleicht verhindern könnte, nicht annehmen.

Ist die Sexualität also tatsächlich eine Sollbruchstelle zwischen Eltern und Jugendlichen?

Auf jeden Fall ein Anlass für sehr spannende und vielleicht auch freudvolle Erfahrungen. Die manchmal sehr direkten oder auch provozierenden Fragen und Äußerungen der Jugendlichen können Eltern anregen, sich anstecken zu lassen und selbst noch einmal neu auf die Auseinandersetzung um Liebe und Sexualität ein­zugehen. Einem Kind erkläre ich die Welt und sage, wie sie aus meiner Sicht ist. Bei Jugendlichen geht das nicht mehr; mit denen gilt es zu diskutieren, sich hinterfragen zu lassen, eigene Begrenzungen und Fragwürdigkeiten zuzugestehen, zu streiten, über eigene Fehler zu lachen, aber auch, Werte zu formulieren, Grenzen zu setzen und dafür zu stehen. Umgekehrt ist es aber auch die Aufgabe von Eltern, den einen oder anderen Aspekt tiefer aus­zuleuchten. Oberflächlich gesehen wissen Jugendliche heute zwar fast alles, aber über die Fragen dahinter, zu Themen wie Schwangerschaft, Empfängnisregelung, Ansteckungsgefahren und vor allem zu emotionalen Im­plikationen von Sexualität wissen sie heute nicht mehr als Gleichaltrige vor 50 oder 60 Jahren. Dafür brauchen Jugendliche uns Erwachsene. Und was oft vergessen wird: Sie zeigen sich körperlich zwar gereift, sind emo­tional jedoch oft sehr unsicher und schleppen bisweilen auch Ängste vor dem Erwachsenwerden mit sich. Nach außen mögen sie cool tun oder sich stachelig-abweisend verhalten, aber auch sie suchen und brauchen wie jeder Mensch mal den Schoß.